„Zurück nach Deutschland“

Viel russisch verstanden sie nicht, aber das war die Fahrkarte zurück: nicht in die Heimat, denn die war zerstört – aber raus aus der Gefangenschaft rein in die gefürchtete Freiheit.

Der Soldat hatte sein Gewehr locker über die Schulter gehangen, denn zielen  brauchte er hier nicht. Hier war ja schließlich nichts außer Urwald, wohin also? Er zeigt auf die in einer Reihe stehenden Frauen. Aber die, die er meinte, waren jene die gesund waren oder zu erschöpft waren um den Rücktransport zu überleben. Sie mussten bleiben, hier, als Arbeiter für die Russen, irgendwo in Sibirien und würden niemals mehr frei sein. Doch was war frei sein? Seit sechs Jahren oder so waren sie nicht mehr frei gewesen, seit der Krieg angefangen hat.  Sie hatten Angst vor Freiheit, denn sie wussten nicht was sie dort erwartete. Aber alles, alles musste besser sein als hier im Lager. Ja, nach Hause, Ostpreußen, das war ihr größter Wunsch.

Jede der geschundenen Frauen musste auf- und abgehen, damit der Soldat entscheiden konnte, wer mitfahren durfte. Auch Rosa musste vorlaufen. Ihr Blick war leer, sie vermied es den Wärter anzusehen. Sie hatte Schmerzen, erst gestern hat sich ein Ast von einem der stämmigen Bäume, die sie fällen mussten, in ihre Wade gebohrt und die Wunde an ihrem Unterarm tropfte noch immer vor Eiter. Ein Insektenstich. Der Stabsarzt, ein Deutscher, wollte den Arm amputieren, doch es gab kein Betäubungsmittel und sie weigerte sich. Er machte vier Schnitte, so dass der gelbliche Eiter abfließen konnte. Kräuter, Heilmittel aus der Natur, konnte sie sammeln und so zumindest Schlimmeres verhindern. Und Typhus hatte sie auch. Doch sie lebte noch. Gerade jetzt durfte sie sich die Strapazen nicht anmerken lassen. Es ging um Leben oder Sterben. Sie wollte leben! Einatmen – Brust raus – Schmerzen ignorieren – stolzer Gang – und los! Der Soldat runzelte die Stirn, die anderen Frauen, dreckig, ausgemergelt, in Fetzen gekleidet, wagten nicht sich zu bewegen. Aber ihre Augen schimmerten von Tränen der Verzweiflung und Angst. Nicht mal die „Aussortierten“ durfte man jetzt trösten. Rosa drohte vor Pein zusammenzubrechen, alles brannte und schmerzte, aber sie wusste, es kam auf diesen Moment an. Nicht zu gesund, nicht zu krank. Doch der Arm in der Binde erfüllte seine Zwecke. „Dobsche“ und „Deutschland“ vernahm sie da von dem Soldaten. Ja – sie durfte zurück, zurück nach Deutschland, nach Ostpreußen. Keine Emotionen – dafür war jetzt nicht der rechte Moment. Maria, die Frau neben ihr, stützte sie fast unmerklich von hinten und doch gab es ihr Halt. Warte, bis Du auf dem Transporter bist. Halte durch! Die Auswahl ging weiter. Von den 2000 Frauen, die hier im finnischen Urwald vor acht Monaten ankamen, werden nur 200 zurückkehren. Die Anderen verscharrt im Laub, unter dem Moor, ohne Zeremonie, ohne Erinnerung, ohne Gesicht. Vergessen!

Vergessen wird Rosa diese Zeit nie, den Krieg, das Leid, den Schmerz.

Es war Januar als die Russen sie und die anderen entführten und verschleppten, dass muss jetzt ungefähr acht Monate her sein. Als der Krieg anfing wurde sie von ihrer Familie wieder ins Dorf zurückgeholt. Zuvor hatte sie 3 Jahre in Allenstein gelebt, eine Großstadt, die dann gefährlich wurde. Dort war sie Angestellte im Haus der Gnädg’en Frau, für die ihr Vater früher arbeitete. Als die Herrin nach Allenstein in ihre Villa zog, nahm sie die jüngste Tochter ihres fleißigsten Arbeiters mit.

Rosa kam aus Rößel, aus dem gleichnamigen Kreis, mitten in Ostpreußen. Sie wohnte mit ihrer Familie in der Schillerstraße in einer kleinen Wohnung. Sie war eines von acht Geschwistern, die meisten ihrer Brüder und Schwestern schon verheiratet. Anton wurde eingezogen, Maria hatte kurz vor Kriegsbeginn geheiratet. Was die anderen jetzt machten wusste sie nicht. Sie musste viel arbeiten früher, aber sie durfte auch zur Schule gehen. Kopfrechnen machte ihr besonders viel Spaß. Im Winter war die Familie manchmal meterhoch eingeschneit, so dass sie richtige Gänge buddeln mussten, um überhaupt hinaus zu kommen. Da war an Schule nicht zu denken. Aber sie liebte auch die Abende im Kreis ihrer Familie, wenn der Vater Akkordeon und die Mutter auf der Mundharmonika spielte oder die Kinder sangen und die Mutter strickte. So lernte sie auch kochen und backen und den Haushalt zu führen. Als Jugendliche hat sie bei feinen Leuten geputzt und später bei Handarbeiten & Kurzwaren Handke im Haushalt gearbeitet und war stets fleißig. Die Herrin war sehr zufrieden mit ihr und nahm sie mit nach Allenstein als Haushälterin. Einmal im Monat hatte sie einen Tag frei. Sie bekam sogar ein bisschen Geld und konnte sich nach einem Jahr ein Fahrrad kaufen. In Allenstein kümmerte sie sich um Haus und Hund. Dieses widerliche Tier, eine Bulldogge, die ein besseres Leben hatte als so manch ein anderer. „Bübchen“ wurde er liebevoll von der Herrin und ihrem geliebten General genannt. Er bekam beim Metzger immer ein extra Stück Wurst, die Hundewurst. Rosa musste den Hund immer ausführen, aber sie konnte ihn nicht ausstehen. Sonst wurde sie gut behandelt.

Als alles anfing, flüchtete sie aus der Stadt zu ihrer Schwester nach Fischbach bei Heilige Linde (heute Swieta Lipka) am See, um dort auf ihrem Bauernhof zu arbeiten. Auch ihre Mutter war dort. Sie hatten sie im Bollerwagen aus dem Dorf hierher gebracht. Viele Neuigkeiten bekam man hier nicht mit. Hier und da verschwand einer, es gab kaum junge Männer, nur alte, Frauen und Kinder. Aber sie fühlten sich sicher, hier in der Provinz. Bis zu jenem Tag im Januar 1945, als die Russen kamen. Sie arbeiteten gerade beim Vieh. Da kamen sie mit Kleintransportern. Die Frauen schrien, die Kinder weinten. „Versteck Dich, komm mit!“ Katharina riss sie am Arm mit sich. Ohne nachzudenken schwangen sie sich auf den Speicher, vergruben sich im Heu. Da rollten sie auch schon an, die Motoren heulten auf, ein Durcheinander von Stimmen, wegflatternden Hühnern, Rufe, Schreie, Befehle, die sie nicht verstanden, dessen Sinn aber eindeutig war. Es ging alles sehr schnell. Die Soldaten drangen in die Scheune, gaben ein paar Schüsse ab und brüllten wilde Drohungen. Rosa und Katharina zitterten im Heu und hielten sich die Hand vor den Mund, um nicht zu laut zu atmen. Da schwang sich einer der Männer hinauf und trat mit dem Fuß ins Heu. Er würde sie finden. Und er fand sie. An den Haaren zog er die beiden verängstigten Frauen aus ihrem Versteck und schleuderte sie den anderen Männern entgegen. Mit einem schäbigen Grinsen schubsten sie Rosa und Katharina ins Freie und wenige Momente später befanden sie sich auf dem bewachten Kleintransporter. Die Motoren heulten auf und sie setzen sich in Gang. Aus einem Schleier aus Tränen sah Rosa wie ihre Schwester hysterisch und schreiend hinter dem Laster  hinterherrannte und den Mädchen zwei Decken zuwarf. Mehr gab es nicht mitzunehmen. Kein Abschied, keine Erklärung, keine Erinnerungen. Nichts. Nur das was sie bei sich hatten. 15 junge Frauen wurden an diesem Tage aus dem Dorf entführt. Alle arbeitsfähigen Mädchen, die keine Kinder hatten. Ihre Schwester hatte zwei und blieb.

Sie fuhren mehrere Tage durch den Winter im offenen Kleinlaster. Glücklicherweise hatten Rosa und Katharina die Decken. Sie schützten sie vor dem Erfrieren und schon nach ein paar Tagen, gab es die erste Erfrorene. „Sie bringen uns in die Sowjetunion, irgendwo nach Russland.“, hatte ein Mädchen verstanden. Sie waren alle erschöpft, vor Hunger, vor Kälte, vor Angst. Das schlimmste war die Ungewissheit. Was wird mit ihnen geschehen? Wo werden sie hingebracht? Nach Stunden der Verzweiflung war allen klar: Es gibt kein gutes Ende! Irgendwann in der Nacht hielten sie vor einer halb verfallenen, doch stark beleuchteten Lagerhalle in einer ausgestorbenen Stadt an. Die Türen öffneten sich und wie Hühner von der Stange wurden sie in die Halle gescheucht. Keine versuchte sich zu wehren. Zusammen mit mehreren Frauen kam Rosa in eine Zelle, nur ein Eimer stand in der Ecke, ansonsten war der Raum leer. Nicht einmal Klopapier. Doch hier gab es keinen Raum, um sich zu genieren. Sie drückten sich aneinander. Und warteten. Eine nach der anderen wurde aus dem Raum gezerrt und sie kamen alle gebrochen zurück. Rosa zitterte. Nun war ihre Zeit gekommen. Sie wurde in einen Raum gebracht, in dem ein russischer Offizier auf sie wartete. Überall roch es nach Schweiß und Pisse, überall war Blut. „Gehören sie einer zum Bund deutscher Mädel?“ Nein. Er schlug sie ins Gesicht. Im Nebenzimmer wurde ein Mädchen vergewaltigt. Sie schrie nicht mal mehr. „Nein, ich gehöre keiner  nationalsozialistischen Partei an, aber ich bin Mitglied in einem Verein für Mädchen.“ „Folgen sie nationalsozialistischen Vorsätzen?“ Nein. Er schlug sie wieder. „Wir sind eine religiöse Gruppe und gehören keiner Partei an.“ Der Offizier nickte. Aus irgendwelchen Gründen schien ihm das zu genügen. Er ließ von ihr ab, ohne ihr Schlimmeres anzutun und sie wurde zurück in die Zelle gebracht. Den meisten anderen erging es nicht so gut. Sie sagten offenbar, was ihre Peiniger hören wollten und wurden bestraft. Einige sah man nie wieder. Nach einigen Tagen der Pein und Folterung wurden alle Frauen aus ihrem Gefängnis getrieben und mussten zu Fuß einige Kilometer bis zu einem Bahnhof laufen. Insterburg ließ dort ein Schild verlauten. Aha, sie waren also noch in Ostpreußen, in Kalingrad, noch nicht weit hinter der polnischen Grenze. Dort wurden sie wie Vieh zu Hunderten in Waggons gepfercht. Es blieb kaum Platz zum  Sitzen, kaum mehr zum Atmen. Der Zug hielt nicht an. Nur ein paar Mal, um die Mädchen mit wenigen Litern verdreckten Wassers auszustatten. Sie hatten Hunger und froren und es wurde immer kälter. Nach mehreren Tagen, oder waren es Wochen?, gab es einen Ruck. Der Zug stockte, es gab Rufe: Endstation! Irgendwer schrie: Wir sind in der Sowjetunion. Doch bald erfuhren sie, dass sie noch weiter im Norden waren als befürchtet. Sie waren in der Republik Karelien, in Petrozavodsk,  im Norden Russlands. 1500 km von zu Hause entfernt.

Dort gab es keine Straßen, keine Häuser. Nur Urwald. Überall waren hohe Bäume und Morast. Inmitten des Urwalds gab es Baracken, in die sich viel zu viele Frauen zusammen rotten mussten, um nicht im Freien schlafen zu müssen. An die 2000 Frauen hausten hier unter schrecklichsten Bedingungen und immerzu schrien die Wärter: Dawai, dawai sonst nix essen! Dawai, das war Arbeit, harte Arbeit. 20 Bäume mussten sie jeden Tag fällen und in 2m lange Stücke schneiden und stapeln. Und nichts als schimmeliges Brot und dreckiges Wasser gaben sie ihnen. Jeden Tag starben Frauen. Sie wurden einfach ins Moor geworfen, so wie sie waren, verscharrt unter Laub, bedeckt mit Moos. Namenslose Gräber. Und wer nicht an Unterernährung und Erschöpfung starb, den rafften der Typhus oder andere Krankheiten dahin. Dawai, dawai! Tagein, tagaus. Tage, Wochen, Monate. Wenn sie Glück hatten, fanden sie unter dem Schnee Brennnesseln oder Klee zum Essen, um wenigstens so den andauernd knurrenden Magen für einige Momente zu besänftigen. Sie wurden immer weniger, das Brot immer fauler, die Arbeit immer härter. Bis die übriggebliebenen eines Tages zusammen getrieben wurden und sich in einer Reihe aufstellen mussten. Hier waren es noch fast 800 Frauen. Zu Hause, in Deutschland sollten nur 200 ankommen.

All das ging Rosa auf dem holprigen Weg durch den Kopf. Ihr ist nicht nach Lachen zumute, doch ist es nicht die Ironie des Schicksals, dass sie nun auf einer Straße Richtung Freiheit, Richtung zu Hause fuhren, die sie für die Russen gebaut haben? Makabrer Zynismus. Vielleicht verstand sie in diesem Moment, was dies bedeutet. Zwei Wochen brauchten sie bis nach Berlin, Ostberlin. Auf dem Weg erfuhren sie, was sich während ihrer Gefangenheit im Rest der Welt ereignet hat. Der Krieg ist vorbei, einige Schäden können niemals beseitigt werden und Menschen starben noch immer an Hunger. Rosa erfuhr, dass es ihre Heimat nicht mehr gab. Ostpreußen gibt es nicht mehr. Alles zerstört, was übrig war, gehörte jetzt zu Polen. Wo sollte sie hin? „Wo geht es hin?“ fragte brummig die Zollbeamtin an der Grenze. „Nach…nach… Deutschland.“ „Ohne eine Anschrift lasse ich sie nirgendwohin!“ raunzte die Alte. „Außerdem müssen sie erst gereinigt werden, bevor sie in den Westen dürfen.“  Reinigen, dass heißt die Haare rasieren. Alle Frauen aus Gefangenschaft wurden kahl geschoren, ihnen wurde der letzte warme Fetzen vom Leib gerissen und verbrannt. Scham, das kannte man schon lange nicht mehr. Da wusste Rosa wieder wo sie hin muss: Nach Bergkamen-Rünthe, zu meiner Schwester. Die Beamtin schubst sie ohne Worte vorwärts über die Grenze nach Westdeutschland.

Verloren, mittellos, ohne eine Ahnung wie sie zu ihrer Familie kommen sollte, irrte Rosa am Bahnhof umher. „Darf ich Ihnen helfen?“ fragte da ein junger Soldat. Rosa zögerte. „Keine Angst, ich kümmere mich um Sie.“ „Ich muss nach Bergkamen.“ Offensichtlich kannte der Soldat die Richtung und zog sie mit in den völlig überfüllten Zug, der schon am Bahnsteig wartete. Die Fahrt in den Westen dauerte lang, zwei Wochen. Immer wieder hielt der Zug an, es wurden zerstörte Gleise repariert, man füllte Trinkvorräte an Bächen auf und gab den Menschen so die Möglichkeit sich die Beine zu vertreten oder zu entledigen. Der Soldat hielt sein Versprechen und wich Rosa nicht von der Seite. Er ließ sie von seinem Brot mitessen, bettete sie sorgfältig und hielt sie sogar beim Pinkeln, so schwach war sie. Eines Tages lief ein Mann durch den Zug und rief, ob es jemanden aus Rößel gebe. Rosa schlug die Augen auf und erkannte einen Bauern aus ihrem Dorf. Sie fielen sich in die Arme, denn auch er erkannte sie. „Rosa!“ hörte sie ihren Namen. Doch es war nicht der Bauer, nein, es war… Johann. Johann! Eigentlich der letzte Mensch, dem sie begegnen wollte. Sie war einmal mit ihm verlobt gewesen, damals, als der Krieg anfing, vor langer Zeit. Doch sie mochte ihn eigentlich nie besonders, und hübsch war er auch nicht. Als er eingezogen wurde, lösten sie die Verlobung auf, denn keiner wusste, ob sie sich jemals wieder sehen würden. Und Rosa war sogar ein bisschen froh gewesen, dass es so kam. Und nun stand er hier, nach allem, wieder vor ihr. „Rosa, das ist ein Zeichen! Wir gehören zusammen!“ „Nein, Johann, mit uns ist es schon lange vorbei und daran kann auch der Krieg nichts ändern.“ Er schaute traurig aus, aber dennoch blieben er und der Bauer bei ihr und halfen, wo sie konnten. Sie erfuhr von beiden, dass der Bauernhof ihres Schwagers zerstört sei, sich aber alle Bewohner auf die Flucht in den Westen begäben hätten und so gäbe es eine Chance, die Familie wiederzusehen. Rosa hoffte innständig, dass sich auch ihre Verwandten auf den Weg nach Bergkamen gemacht hätten. Sie hatte Angst, dort niemanden vorzufinden. Aber im Moment fiel ihr keine bessere Lösung ein. Erst in Dortmund am Bahnhof, verabschiedeten sich die beiden von ihr und wünschten ihr alles Gute. Jahre später erfuhr Rosa, dass Johann schon Ende der 50er Jahre an einer Lungenkrankheit gestorben war und sie war wieder froh, dass sie ihn nicht zum Mann genommen hatte. Der Soldat blieb noch bis Hamm bei ihr. Am Bahnhof verteilte eine Frau Erbsensuppe. Erst jetzt merkte Rosa wieder, wie sehr ihr der leere Magen weh tat und sie bat die Frau um eine Kelle. Hau ab, ich kenne dich nicht, bekam sie als Antwort. Rosa war schockiert und wusste nichts zu erwidern. Da trat der Soldat auf die Frau und drohte ihr: „Wenn Du dieser armen Frau, die seit vier Wochen unterwegs ist und mehrere Monate in Finnland in einem Arbeitslager für die Russen gearbeitet hast, keine Suppe gibst, dann hau ich dir in die Fresse!“ Und er sagte es mit solcher Bestimmtheit, dass die Frau sich nicht mehr weigerte, Rosa von der wohltuenden, heißen Suppe zu geben.

Noch eine weitere Zugfahrt und sie kam in Bergkamen an. Von da aus musste sie zu Fuß zum Hof Schulze Heil in Rünthe finden. Die Adresse, wo sie ihre Familie vermutete. Auf der Straße wurde sie angegafft, kein Wunder bei dieser ausgemergelten, zerlumpten Erscheinung.  „Oh Gott, Mädchen, wo kommen Sie denn her?“ sagte ein Bauer, den sie um eine Wegbeschreibung bat. Sie war zu schwach um zu antworten und lief weiter. Von weitem kam ihr eine weitere Gestalt entgegen. Es war ihr Vater. Sie fiel ihm weinend in die Arme. „Kind, alles wird gut, Du bist zu Hause!“

Zu Hause, das war nun Bergkamen-Rünthe auf dem Hof Schulze Heil, weit weg vom schönen Ostpreußen, traf sie auch ihre Schwester, ihre Mutter und Brüder wieder. Anton kam nicht aus dem Krieg zurück. Sie half dort als Haushälterin und lernte bald Erich kennen, den sie 1952 heiraten sollte. Auch er musste aus seiner Heimat, Ostpreußen, flüchten. Auch sein väterlicher Hof existiert nicht mehr. Sie bekamen zwei Kinder und starben im Jahre 2013, nach 61 Jahren Ehe nur 3 Wochen nacheinander. Rosa überlebte alle ihre Geschwister. Die Liebe zur Heimat hat das Paar verbunden. Sie haben Ostpreußen nie vergessen.

 Wir gingen zusammen im Sonnenschein,

wir gingen zusammen im Regen,

doch niemals ging einer für sich allein

auf des Lebens steinigen Wegen.

In Liebe für Rosa.

http://ostpreussen.net/

Kerkerlied 1945

(aus dem Lager in Petrozavodsk, Karrelien, Russland)

1.

Als wir im März hinaus gezogen sind

Da jammert mit uns so manches Kind

Denn o Schrecken die Parole hieß:

Kinder ihr kommt alle ins Sowjetparadies

Die Tränen rollten und uns war das Herz so schwer

Die Muttchen jammerten und das half auch nichts mehr.

Ein letztes Winken und ein letzter Blick

Denn wer weiß ob wir noch einmal kehren zurück

3.

Bei trockenem Brot und Wasser standen wir eingepfercht

Der Pfosten vor der Türe hatte nun das Recht

Auf Toi‘ gehen durften wir nur einmal hier

Ach Kammeradin ich hab kein Klosettpapier.

4.

Wo man Waschen laut den größten Luxus nennt

Wo man weder Seife Kamm noch Spiegel kennt

Wo die Läuse kriechen dass es nur so knackst

Da haben wir die Tage so herumgebracht.

5.

Vom Kerker Insterburg ging es im gleichen Schritt

Und der Viehwaggon der nahm uns alle mit

Hier ging wieder das Gejammer los

Denn der Raum war klein und die Menge groß.

6.

Das Züglein rollte immer weiter und so weit

Bei uns war Frühling doch hier ist noch Winterzeit

Die Zähne klappern und ein jeder friert

Denn wir hatten uns zu dünne ausstoffiert.

7.

Es gibt einen Ruck, es heißt hier Endstation

Alles brüllt wir sind in der Sowjetunion

Statt Häuser man hier Barracken sieht

Und die Sehnsucht uns mit Macht nach Hause zieht.

8.

Unsere Arbeit ist im Lager das Bäume fällen ist,

Knüppeldämme und Flößen in der Schicht

Dawai, bamai, rufen die Posten laut

Sonst gibt’s nichts zu essen mit Verlaub.

9.

Den Durst zu stillen hilft uns der Schnee

Im Magen rumort es denn Hunger tut weh

Küküsklee unter Brennesel unter dem Schnee

Helfen dem Magen zu erdulden das Weh

10.

Das Sterben beginnt die Lücken werden groß

Verscharrt unterm Laub, darüber noch Moos

Die Sehnsucht nach Haus ist sehr groß

Doch fast alle liegen schon unter dem Moos.

11.

Doch als wir wir waren, wir wenige noch

Und der Rest schwer krank unter dem Joch

Der Tod und die Krankheit das Lager verfiel

Für alle Verschleppten ein grausiges Spiel.

12.

In die Heimat zukommen der wenigen noch

Doch vertrieben waren unsere Lieben doch

In Deutschland zu leben als Fremder war schwer

Doch in Gedanken wir lieben unsere Heimat Ostpreußen sehr.

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